Der Shoa‐Überlebende Shmuel Dancyger wird bei einer Razzia in der Reinsburgstraße von einem Stuttgarter Polizisten erschossen. Die Tat bleibt ungeklärt. Heute erinnert eine Stele an ihn und die über tausend polnisch-jüdischen Displaced Persons, die von 1945 bis 1949 in Stuttgart‐West untergebracht waren. Wovon wenig erzählt wird, ist das selbstverwaltete Alltagsleben:
Neben verschiedenen Bildungseinrichtungen und vielfältigen Kulturveranstaltungen gab es in der Reinsburgstraße eine Synagoge, eine Mikwe, einen eigenen Fußballclub, eine koschere Küche, den „Café-Klub Tel Aviv“, sowie eine Krankenstation und eine eigene Polizei. Auch eine Zeitung wurde herausgegeben. Heute ist dies weitestgehend unsichtbar, nur die Gebäude sind als stumme Zeugen erhalten geblieben.
Während der Summer School wird die ortsspezifische Geschichte im Kontext aktueller künstlerischer und kultureller Diskurse vergegenwärtigt. Dazu wird deutsche Erinnerungskultur vor dem Hintergrund antisemitischer, rassistischer und rechtsextremer Kontinuitäten in Deutschland diskutiert. Eine Stadtwanderung führt in zwei Etappen von Bad Cannstatt in die Reinsburgstraße nach Stuttgart-West.
Mit Gesprächen, Führungen, Workshops und Vorträgen, u. a. von Hannah Peaceman, Monty Ott, Ruben Gerczikow, Juliane Bischoff, Avi Palvari, Tamar Lewinsky, Josefine Geib, Günter Riederer und Karin Autenrieth.
Mit Filmen von Chantal Akerman, Hito Steyerl, Maya Schweizer, Arkadij Khaet und Cana Bilir-Meier, einem Buch von Judith Coffey und Vivien Laumann und einer Ausstellung im Schaufenster des Versicherungsbüros von Achim Lesnisse.
Begrüßung der angemeldeten Teilnehmer*innen
Ort: Reinsburgstraße
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Reading GroupEinführender Lesekreis zu Judith Coffeys und Vivien Laumanns Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen, Berlin 2023 [2021]. Wir lesen und diskutieren zusammen Kapitel 6 “Gojnormativität in der Erinnerung an die Schoa und an aktuelle antisemitische Gewalt”. |
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Pause mit Snacks |
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Tell Me About…
Juliane Bischoff spannt in ihrem Vortrag einen Bogen von der Ausstellung “Tell me about yesterday tomorrow” (NS-Dokumentationszentrum München, 2019) zu ihrer Tätigkeit als künstlerische Leiterin der Klosterruine Berlin (seit 2023). Sie gibt einen Einblick in ihre kuratorische Praxis, die unter anderem in den öffentlichen Raum hinein gerichtet ist und diesen immer wieder neu verhandelt als einen zwischen Geschichte und Gegenwart gewordenen und werdenden Raum. Dabei beschäftigt sie sich unter anderem mit Fragen nach den sozialen Bedingungen, in denen Bilder, Ästhetiken und Narrative entstehen und fortwirken. Wie kann Geschichte multiperspektivisch und vielstimmig erzählt werden?
Juliane Bischoff ist seit 2019 Kuratorin am NS-Dokumentationszentrum München und seit 2023 zudem künstlerische Leiterin der Klosterruine Berlin. Zuvor war sie als Assistenzkuratorin in der Kunsthalle Wien tätig und arbeitete in Institutionen wie der Kunsthalle Basel und dem Goethe-Institut New York. Sie schreibt regelmäßig für unterschiedliche Medien, Künstler*innenpublikationen und Ausstellungskataloge.
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„Schläft wieder die Welt, geht zurück die Zeit?!“: Antisemitische Kontinuitäten und die Geschichte des jüdischen DP-Camps Stuttgart
Von 1945 bis 1949 lebten in der Stuttgarter Reinsburgstraße rund 1.400 polnische Jüdinnen und Juden, die den Holocaust überlebt hatten. Antisemitische Pogrome machten eine Rückkehr nach Polen unmöglich, die ersehnte Emigration nach Palästina und in die USA blieb bis 1948 verwehrt. In der Reinsburgstraße etablierten sie ein vielfältiges, selbstverwaltetes Alltagsleben. Der Vortrag beleuchtet dieses unfreiwillige Leben unter Deutschen und insbesondere die antisemitischen Kontinuitäten, von denen es bedroht war – wie es im März 1946 drastisch zum Ausdruck kam, als der Auschwitz-Überlebende Shmuel Dancyger bei einer Schwarzmarkt-Razzia der Stuttgarter Polizei erschossen wurde.
Io Josefine Geib hat an der Goethe-Universität Frankfurt und der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris Geschichte studiert, mit einem Schwerpunkt auf Antisemitismus- und Holocaustforschung. Aktuell promoviert sie in Frankfurt zur Wiedergutmachung des NS-Bücherraubs in Frankreich. Selbst in der Reinsburgstraße aufgewachsen, hat sie 2021 ihre Masterarbeit über die Geschichte des Stuttgarter DP-Camps geschrieben, die 2024 in überarbeiteter Fassung in der Schriftenreihe des Stadtarchivs Stuttgart erscheinen wird.
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Ausklang |
09:00 |
Besuch des Friedhofs und GesprächOrt: Jüdischer Friedhof Bad Cannstatt Das Gespräch findet im Anschluss außerhalb des Friedhofs statt. |
10:30 |
Archivführung und Quellenanalyse
Ort: Stadtarchiv Stuttgart
Im Stadtarchiv lernen wir die Arbeitsbereiche eines kommunalen Archivs kennen. Darüber hinaus führt der Rundgang auch in die ansonsten nicht öffentlich zugänglichen Bereiche des Stadtarchivs: Im Magazin werden die verschiedenen Sammlungen des Hauses (u.a. Historische Karten und Pläne oder Akten) vorgestellt. Anhand von ausgewählten Dokumenten aus dem Archiv beleuchten und diskutieren wir im Rahmen einer Quellenübung unterschiedliche Perspektiven auf die Polizei-Razzia in der Reinsburgstraße.
Dr. Günter Riederer ist Historiker und Mitarbeiter im Stadtarchiv Stuttgart. Er ist dort u.a. für die Erforschung und Vermittlung von Stadtgeschichte zuständig.
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13:00–14:00 |
MittagspauseOrt: Schlosspark |
Führung durch die Synagoge und das Gemeindezentrum
Ort: Israelitische Religionsgemeinschaft Württembergs, Gemeindezentrum Stuttgart
Avi Palvari ist Erziehungswissenschaftler, Sozialpädagoge, Tanz- und Ivrit-Lehrer. Er ist Mitglied der IRGW.
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Kaffeepause | |
„Im fremden Land“. Jüdische Displaced Persons im besetzten Nachkriegsdeutschland
Ort: Künstlerhaus
Der Vortrag eröffnet zunächst einen Blick auf die Presse und Literatur der jüdischen Displaced Persons als zentraler Aspekt ihrer gesellschaftlichen und politischen Tätigkeit. In einem zweiten Teil wird der Fokus beispielhaft auf den DP-Schriftsteller Mates Olitski gelegt, der sich in seiner Lyrik mit dem unfreiwilligen Leben im Land der Täter auseinandersetzte. Gemeinsam werden wir sein Gedicht über Stuttgart lesen und diskutieren.
Dr. Tamar Lewinsky ist seit 2015 Kuratorin für Audiovisuelle Medien am Jüdischen Museum Berlin. Momentan bereitet sie eine Ausstellung über das Audio-Archiv zu Shoah von Claude Lanzmann vor. Zuvor war sie in München, Düsseldorf und Basel forschend und lehrend tätig. Sie studierte Judaistik, Jiddistik und Linguistik in Zürich, Duisburg, Düsseldorf und Jerusalem promovierte an der LMU München über jüdische Literatur und Kultur in Displaced Persons-Camps.
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Ausklang mit Suppe |
Gang in die Reinsburgstraße anhand von Bildern, Gebäuden, Dokumenten und Gesprächen
Ort: Reinsburgstraße und Westbahnhofsiedlung
Zusammen mit der Historikerin Io Josefine Geib erkunden wir die Reinsburgstraße und die daran angrenzende Westbahnhofsiedlung. Wir treffen Karin Autenrieth (Bau- und Heimstättenverein eG) und Achim Lesnisse, in dessen Versicherungsbüro ein temporäres Archivfenster eingerichtet werden wird, sowie Anwohner*innen.
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Kaffeepause |
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Gesellschaftspolitische Kämpfe (junger) Jüdinnen*Juden in Geschichte und Gegenwart
Ort: Reinsburgstraße
Jüdischer Widerstand, gestern, heute, morgen? Anhand von einzelnen Textausschnitten aus unserem Buch „'Wir lassen uns nicht unterkriegen' - Junge jüdische Politik in Deutschland“ wollen wir mit Euch das Engagement (junger) Jüdinnen*Juden in Vergangenheit und Gegenwart besprechen und dabei schauen, welche Grenzen, Herausforderungen und Möglichkeiten für dieses bestehen.
Monty Ott ist Politik- und Religionswissenschaftler, sowie politischer Schriftsteller. Er publiziert zu tagespolitischen Themen und beschäftigt sich in seinen Beiträgen mit Antisemitismus, Erinnerungskultur, Intersektionalität und Queerness. Anfang 2023 erschien sein Essay „Inzwischen ist es kalt geworden“ über Antisemitismus in linken Bewegungen in der ZEIT. Seit über einem Jahrzehnt engagiert sich Monty Ott in der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit. Anfang 2023 ist sein gemeinsam mit Ruben Gerczikow verfasster Reportageband „'Wir lassen uns nicht unterkriegen'“ - Junge jüdische Politik in Deutschland im Verlag Hentrich & Hentrich erschienen. Für ihren Text „Hat Halle uns verändert? Ein Manifest mutiger, widerständiger Jüdischkeit“ wurden sie beim Schreibwettbewerb L’Chaim der Initiative Kulturelle Integration ausgezeichnet.
Ruben Gerczikow ist Autor und hat Publizistik und Kommunikationswissenschaften studiert. Er recherchiert zu antisemitischen Strukturen im analogen und digitalen Raum. Er hat in der Vergangenheit bereits für Medien wie dem Spiegel, der FAZ, den Tagesspiegel und die taz geschrieben. Seine Veröffentlichungen behandeln die Themenfelder Antisemitismus, Rechstextremismus, Islamismus und jüdische Gegenwart.
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Einführung in das Kurzfilmprogramm |
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Filmscreening mit Snacks
Chantal Akerman, Saute ma ville, B 1968, 13 Min.
Hito Steyerl, Babenhausen, D 1997, 4 Min.
Maya Schweizer, A Memorial, a Synagogue, a Bridge and a Church, SVK 2012, 12 Min.
Cana Bilir-Meier, This Makes Me Want to Predict the Past, D/A 2019, 16 Min.
Arkadij Khaet und Mickey Paatzsch, Masel Tov Cocktail, D 2020, 30 Min.
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Kämpfe um Erinnerung und jüdische Gegenwarten
Ort: Reinsburgstraße
Erinnerungskultur ist nichts Abstraktes, sondern immer konkret, immer ein Kampf, nicht nur um die Vergangenheit, sondern um die demokratische Gegenwart und Zukunft. Aber was bedeutet das in einer vielfältigen demokratischen Gesellschaft? Um sich einer Antwort auf diese Frage anzunähern, wird in diesem Vortrag die Zeitschrift/Buchreihe „Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart“, die seit 2015 einen Diskussionsraum für jüdisch-nicht-jüdische Themen eröffnet hat, vorgestellt. Insbesondere soll es um die Auseinandersetzung mit Allianzen in einer vielfältigen demokratischen Gesellschaft und deren Bedeutung für Erinnerungskulturen gehen.
Dr. Hannah Peaceman ist Geschäftsführerin des Forschungsprojekts „Wie umgehen mit Rassismus, Sexismus und Antisemitismus in Werken der klassischen Deutschen Philosophie?" an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie ist außerdem die Herausgeberin der Buchreihe „Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart“ (zuletzt erschienen: NACHHALLE, 2023).
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Kaffeepause | |
Chancen und Problematiken der Erinnerungskultur zur jüdischen Geschichte bis heute
Die Erinnerungskultur zur jüdischen Geschichte bis heute ist vielfältig und weitgehend etabliert. Dazu zählen Synagogengebäude, Museen, Gemeindezentren, jüdische Friedhöfe, Kunstwerke, Denkmale, Stelen, Stolperstein, Jahres- und Gedenktage, biografische und literarische Narrative, Zeit- und Zweitzeugengespräche, Filme, Sachbücher, digitale Storys und Apps. Im scharfen Kontrast dazu steht der grassierende Antisemitismus in Deutschland besonders nach dem Hamas-Terrorangriff am 7. Oktober 2023 in Israel und die geschichtsrevisionistischen Positionen der neuen Rechten, die diese Erinnerungskultur auslöschen oder instrumentalisieren wollen. Der Vortrag befasst sich mit Chancen, Problematiken und Grenzen dieser Erinnerungskultur. Dabei wird auch die Stele zu den Displaced Persons und Shmuel Dancyger in der Reinsburgstraße sowie ihre Aussagen in den Blick genommen.
Martin Ulmer ist Kulturwissenschaftler und Historiker, Dissertation zu Antisemitismus in Stuttgart im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, hauptamtlicher Geschäftsführer des Gedenkstättenverbunds Gäu-Neckar-Alb e.V., Gründungs- und Vorstandsmitglied der Geschichtswerkstatt Tübingen, Mitglied des Sprecherrats der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten in Baden-Württemberg, Mitglied des Expertenrats beim Landesbeauftragten gegen Antisemitismus Baden-Württemberg, Lehrbeauftragter am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft an der Uni Tübingen, Träger der Otto-Hirsch-Auszeichnung der Landeshauptstadt Stuttgart.
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Abschlussdiskussion |
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Abschlussdinner |
Archivfenster im Schaufenster des Versicherungsbüros von Achim Lesnisse mit einer Reproduktion der Extra-Ausgabe von „Ojf der Fraj“ (8. April 1946), Sammlung Jüdisches Museum Berlin
Bitte melde Dich bis zum 31. August unter info@stuttgart-reinsburgerstrasse.de mit folgenden Angaben an:
Bei der Summer School handelt es sich um eine viertägige Veranstaltung. Da die Plätze der Summer School begrenzt sind, bitten wir Dich um eine verbindliche Anmeldung.
Die Eröffnungsvorträge am 4. September ab 18:30, sowie das Filmscreening sind öffentlich und bedürfen keiner Anmeldung.